Warum 99% aller Design Manuals ihren Zweck verfehlen

Zum Thema Flexibilität bei Branding Konzepten

In den letzten Jahren habe ich sicherlich hunderte verschiedene Corporate Design Guides studiert – Handbücher mit Vorschriften, die erklären, wie Logos konstruiert sind, welche Farben zulässig sind, welche Ränder einzuhalten sind, wie Pictogramme und Icons anzuwenden sind und so weiter. Diese Handbücher sind meistens 30, häufig aber auch über 100 Seiten lange PDF Dateien (oder – das ist zeitgemäßer – sie sind als „interaktiver Design Navigator“ auf einer Internetseite zu finden). In diesen Manuals passiert vor allem eins: es werden Vorschriften gemacht. Vorschriften, wie zum Beispiel, dass das Logo immer nur in der gleichen Größe unter Einhaltung eines Randabstandes oben rechts im Format platziert werden muss. Oder aber, dass die hauseigene Sonderfarbe überall und in jedem Medium inflationär zum Einsatz kommen muss.

Die Idee dahinter ist grundsätzlich nicht falsch: Wiederholung eines gestalterischen Standards führt zu Wiedererkennbarkeit. Unbewußt wird der Betrachter ein Plakat, eine Website, eine Postkarte oder ein anderes gestaltetes Medium der gleichen Firma zuordnen, wenn all diese Medien die gleichen Farben verwenden und das Logo zum Beispiel immer „oben rechts in der Ecke“ steht.

Aber diese goldene Regel wird allzu häufig leider missverstanden. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass die radikale Standardisierung von Marken-Erscheinungsbildern positive Wirkungen erzeugt. Das Gegenteil ist der Fall.

Vor allem im Mittelstand lassen Design Manuals kaum kreative Ausflüge zu. Schriftgrößen sind bis ins kleinstmögliche DIN-Format fest vorgegeben. Anstelle von Gestaltungsrastern, die dem Grafiker sinnvolle Freiheiten lassen, gibt es einen detailliert vorgegebenen Look für jede Broschüre und jeden Flyer. Und weil man offenbar selbst nicht so recht ans eigene Regelwerk glaubt, nennt man alles, was aus der Reihe tanzt, dann direkt „Sondermaßnahme“ – und hier dürfen dann plötzlich alle Regeln außer Kraft gesetzt werden (was logischer Weise das Gegenteil dessen zur Folge hat, was ursprünglich die Idee war).

Diese Gestaltungshandbücher – und sie sind leider wirklich meistens im Mittelstand zu finden – führen die Idee von Corporate Design ad absurdum:

Erstens: Je enger das visuelle Korsett, desto langweiliger wird das Ganze. Starre Vorgaben führen dazu, dass der ausführende Grafiker einen halbherzigen Job macht und ihm kein Spielraum für das Maß an Kreativität eingeräumt wird, das jeden Designer – und sei er noch so unerfahren – motiviert und begeistert. Das Design Manual muss Lust machen auf Gestaltung, anstatt als Verbotsliste daherzukommen.

Zweitens: Corporate Design soll Rahmenbedingungen schaffen, keine fertigen Medien. Wenn in einem Design Manual jedes Detail einer Imageanzeige oder Broschüren-Doppelseite  hinsichtlich seiner Größe, Position, Farbigkeit und anderer Maßangaben festgeschrieben wird, wie sollen dann neue, originelle Imageanzeigen und Broschüren entstehen können? Eine gute Gestaltungsvorschrift ist eine, die den Gedanken hinter der Designvorschrift erklärt und ein Layoutprinzip verdeutlicht, anstatt ein Layout vorzugeben. Ein gutes Manual muss dem Benutzer wohlkalkulierte, kreative Freiheiten lassen.

Ein gutes Design-Manual muss dem Benutzer wohlkalkulierte, kreative Freiheiten lassen.

(Michael Knoedgen)

Und drittens: Starr gestaltete Marken verblassen schneller als solche, die kreativen Spielraum zulassen. Es erfordert Mut, sich auf die Prägnanz einzelner klarer Stilelemente eines Corporate Designs zu verlassen – zum Beispiel eine klug eingesetzte Typografie, bestimmte Grundformen oder die Farbgebung. Und es erfordert Erfahrung, das Spannungsfeld zwischen Wiedererkennbarkeit und Unverwechselbarkeit zu beherrschen. Aber es lohnt sich, denn ein flexibles Corporate Design, das von einem frei denkenden Brand Manager geführt wird, kann lange Jahre modern und frisch wirken – und dabei die Markenwerte so tief im Bewußtsein der Zielgruppe verankern, dass man es kaum mit Geld aufwiegen kann.

Warum also gibt es so viele Gestaltungsvorschriften, die zu streng sind?

Oft sind die Konzepte nur deshalb so eng gefasst, weil die einzelnen Bestandteile für sich genommen nicht viel Prägnanz hergeben. Man versucht also künstlich eine visuelle Stärke zu erzeugen – indem alle visuellen Bezüge bis ins Detail festgeschrieben werden, Positionen für Überschriften zementiert oder Logos immer und immer wieder in ein- und derselben Größe und Farbigkeit eingesetzt werden müssen. Dabei wissen wir doch aus eigener Erfahrung, wie wichtig Abwechslungsreichtum ist.

5 Tipps, wie Sie ein gutes Corporate Design erkennen

  1. Es beginnt alles mit der Auswahl des richtigen Dienstleisters. Sie sollten mit einer Design-Agentur zusammenarbeiten, nicht mit einer Werbeagentur und auch nicht mit einer Internet- oder Online-Marketingagentur, die Ihnen das Corporate Design „mal eben auch noch“ herstellt.
  2. Bringen Sie genügend Zeit mit. Ein gutes Brandingkonzept benötigt im Vorfeld einen Positionierungs-Workshop, bei dem die Marken-Kernwerte erarbeitet und festgehalten werden. Design kann nur etwas sichtbar machen, worüber Sie sich vorher schon im Klaren sind. Welche „Persönlichkeit“ hat Ihre Marke? Ganz seriös, dunkelblauer Anzug, gerade heraus und strukturiert? Oder vielleicht dynamisch, bunt und laut? Manche Marken sind frech, an der Grenze zur Unverschämtheit. Diese Attribute können erst zugeordnet werden, wenn Sie Ihre Marke positioniert haben.
  3. Verlangen Sie eine ausführliche Konzeptpräsentation von Ihrer Design-Agentur. Lassen Sie sich erklären, worin die Stärke des Konzeptes besteht. Achten Sie darauf, ob das Zusammenspiel einiger weniger Design-Elemente bereits für eine starke Wiedererkennbarkeit sorgt. Können diese wenigen Elemente dennoch in unterschiedlichster Art und Weise kombiniert werden?
  4. Ihre Agentur zeigt Ihnen tolle Layouts von Print-Anzeigen? Verlangen Sie exemplarische Linkedin Ads, Landingpages und zeitgemäße Medien. Marken sind heute digital! Viele Corporate Design Agenturen sind dies jedoch nicht und entsprechend sehen die Konzepte aus. Achten Sie also darauf, dass die Agentur nicht an der Realität vorbei arbeitet und bestehen Sie auf „real world“ Anwendungsbeispielen des Designkonzepts.
  5. Es klingt vielleicht ungewöhnlich, funktioniert aber: Achten Sie bei der Präsentation auf Ihr Gefühl.
    Inspiriert Sie das Konzept oder haben Sie den Eindruck, dass Dinge sich wiederholen? Langweilen Sie sich oder bekommen Sie Lust auf die nächste Kampagne, wenn Sie sich die Entwürfe der Agentur anschauen? Wenn Sie sich langweilen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ihre Kunden das auch tun werden. Da können Sie noch so gutes Content Marketing machen.

„Für kleines Geld bekommt man im besten Fall eine hübsche Gestaltung. Design hingegen kostet deshalb mehr, weil es nicht die Oberfläche aufpoliert, sondern die Substanz verbessert.“

Achim Schaffrinna

Ein gutes Corporate Design entwickelt man nicht über Nacht. Es braucht Zeit, professionelle Sorgfalt und es kostet mehr als ein Kleinwagen. Es ist sicherlich nicht leicht, in Zeiten permanenter Disruption noch Designkonzepte zu entwickeln, die den Anspruch haben, auf Jahre Bestand zu haben. Aber nach meiner Erfahrung profitiert gerade der Mittelstand bei uns in Deutschland sehr von seinem langen Atem. Wir müssen nicht jeden kurzlebigen Trend mitmachen. Es gibt gute Gründe, dies auch in der Unternehmensmarke widerzuspiegeln – und substanziell gutes Design zu leben.