Psychologische Tricks oder geniale Prinzipien?

Wie Wahrnehmungspsychologie gutes Design formt.

In der heutigen Welt, in der wir von visuellen Reizen bombardiert werden, ist es essenziell, die Rolle der Wahrnehmungspsychologie im Design zu verstehen. Denn es geht nicht nur um ästhetische Präferenzen – es geht darum, wie Design unsere Wahrnehmung und Interaktion mit der Umwelt unbewusst lenkt.

Wahrnehmungspsychologie ist ein Begriff, der im 19. Jahrhundert durch Forscher wie Gustav Fechner und Hermann von Helmholtz geprägt wurde. Diese Pioniere brachten uns bei, wie sensorische Informationen vom menschlichen Gehirn verarbeitet werden. Ihre Erkenntnisse sind heute das Fundament für die Gestaltung von Produkten, Interfaces oder Websites, die mehr sind als nur visuelle Kunstwerke.

Als Designer nutzen wir diese Wissenschaft, um zu entschlüsseln, wie Nutzer Farben, Formen und Texte wahrnehmen. Und zwar mit allen Sinnen. Es geht darum, die verborgenen Mechanismen zu verstehen, die unsere Interaktion mit den Dingen lenken. Diese Erkenntnisse ermöglichen es, Objekte zu kreieren, die intuitiv, ansprechend und effektiv sind – ein Zusammenspiel von Ästhetik und Funktionalität, geprägt von der subtilen Kunst der menschlichen Wahrnehmung.

Farben, Formen und Layouts

Farben, Formen und Layouts sind nicht nur Gestaltungselemente, sie sind vielmehr die Sprache, mit der ein Objekt ihren Nutzern kommuniziert. Man könnte denken, dass es einfach nur darum geht, das Objekt „schön“ zu finden oder dass es wichtig ist, dass es dem Designer gefällt – aber so arbeitet ein Profi nicht. Stattdessen studieren wir Farb- und Formenwahrnehmungen und setzen ästhetisch kluge Entscheidungen dafür ein, Emotionen und Handlungen zu beeinflussen. Rot kann Energie und Dringlichkeit ausstrahlen, oder wirkt wie das „Stop“-Signal einer Ampel, während ein dunkles Blau mal ganz generell Vertrauen und Seriosität signalisiert. Studien in der Farbpsychologie, wie die von Eva Heller, bestätigen das übrigens.

Bei Formen gibt es ähnliche Gesetzesmäßigkeiten: Layouts leiten die Blickrichtung des Nutzers und damit auch, wie Informationen aufgenommen werden. Runde Formen wirken oft weicher und einladender als scharfe, eckige Formen. Historisch gesehen hat sich das Verständnis für Formen und Layouts stetig weiterentwickelt, angefangen bei den frühen Experimenten im Grafikdesign bis hin zu den hochentwickelten Benutzeroberflächen heutiger Webseiten. Aber im Grunde sind wir auch hier immernoch archaisch unterwegs und eine gut durchdachte Farb- und Formauswahl, sowie ein klares Layout können zum Beispiel das Nutzerverhalten auf einer Webseite maßgeblich beeinflussen und damit zum Erfolg der digitalen Präsenz beitragen.

Warum ist eine Kaffeekanne eine Kaffeekanne?

Die Gestaltung einer Kaffeekanne ist, so sieht es zumindest Donald Norman in „The Design of Everyday Things“, ein Paradebeispiel dafür, wie Wahrnehmungspsychologie funktioniert. Norman zeigt nämlich auf, dass gutes Design nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern vor allem intuitiv verständlich sein muss. Eine gut gestaltete Kanne vermittelt auf den ersten Blick ihre Funktion: Der Griff zeigt auf, wie sie zu halten ist, der Ausguss zeigt, wo der Kaffee herausfließen wird. Es sind diese scheinbar kleinen, aber entscheidenden Details, die eine selbstverständliche und effiziente Benutzung ermöglichen. Dieses Prinzip der intuitiven Nutzbarkeit überträgt sich auf alle Bereiche des Designs und ist entscheidend für seine Wirksamkeit. Stellen Sie sich eine Kanne vor, die keinen Griff und keinen Ausguss hat. Sowas gibt es natürlich auch in unserer Welt des Überflusses – aber ein solches Objekt würde Fragen aufwerfen! Wo halte ich das Ding fest? Wo schwappt die Flüssigkeit heraus? Eines meiner Lieblingsbeispiele sind auch Türgriffe und das ungeschriebene Gesetz, dass vertikale Griffe eher gezogen, während horizontale Türgriffe eher gedrückt werden.

Donald Norman argumentiert in seinem Buch, dass gutes Design benutzerzentriert sein sollte, also die Bedürfnisse, Fähigkeiten und das Verständnis des Benutzers in den Mittelpunkt stellt. Er betont, dass Objekte so gestaltet sein sollten, dass ihre Funktion offensichtlich ist, was er als „Affordanz“ bezeichnet. Außerdem sollte das Design Feedback geben, um den Benutzern zu helfen, zu verstehen, was passiert, wenn sie mit dem Objekt interagieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Konzept des „Fehlers“, das oft dem Benutzer und nicht dem Design zugeschrieben wird. Norman argumentiert, dass viele sogenannte „Benutzerfehler“ tatsächlich das Ergebnis schlechten Designs sind. Das Buch enthält zahlreiche Beispiele für gut und schlecht gestaltete Objekte und Systeme, und es fordert Designer auf, ihre Arbeit aus der Perspektive des Benutzers zu betrachten.

Überfrachtete Fernbedienungen oder zum Beispiel Audiogeräte mit einer Überzahl an Knöpfen und schlechter Beschriftung führen zu Verwirrung beim Benutzer – während eine simple Schere so gestaltet ist, dass ihre Benutzung und der richtige Griff intuitiv klar sind. Eine Schere zeigt, wie die Form eines Objekts seine Funktion vermitteln kann. Sie sagen vielleicht, dass die Fernbedienung des Fernsehers ja auch mehr können muss als eine Schere – aber denken Sie nochmal darüber nach. Ist das wirklich so? Ich würde da widersprechen.

Donald Normans Buch hat sich jedenfalls als Standardwerk etabliert und wird oft als wesentlicher Text für Designer in vielen Disziplinen, einschließlich Produktdesign, Software-Design und User-Experience-Design, empfohlen. Es hat wesentlich dazu beigetragen, die Art und Weise zu verändern, wie Designer und Produktentwickler über die Benutzerfreundlichkeit und Zugänglichkeit von Alltagsgegenständen denken – und ich plädiere dafür, dass auch User Experience Designer es lesen sollten. Denn was früher die Kaffeekanne war, ist heute das iPhone. Und wenn wir es nicht schaffen, moderne Interfaces zu bauen, die sich wie eine Schere greifen und benutzen lassen, dann ist nicht der Benutzer falsch, sondern wir als Designer haben keinen guten Job gemacht!

„The Roundel“ – ein geniales Zeichen, das Orientierung schafft

Das Design des Leitsystems der Londoner U-Bahn ist ein Musterbeispiel für Klarheit und intuitive Nutzbarkeit, das weltweit seinesgleichen sucht. Das ikonische Logo, bekannt als das „Roundel“, mit seinem markanten roten Kreis und dem blauen Balken, auf dem der Stationsname prangt, ist mehr als nur ein Wegweiser – es ist ein Wahrzeichen Londons. Dieses Symbol vereint Einfachheit mit Wiedererkennungswert und hebt sich dadurch von anderen ab. Ich muss es Ihnen hier nicht zeigen – Sie kennen es.

Ein weiteres geniales Element des Systems ist jedoch die Farbcodierung der verschiedenen Linien. Jede Linie ist durch eine eigene Farbe gekennzeichnet, wodurch das Durchqueren des komplexen Netzes zu einer intuitiven, fast spielerischen Erfahrung wird. Diese visuelle Strategie ist so wirkungsvoll, dass sie selbst für Menschen, die kein Englisch sprechen, eine mühelose Orientierung ermöglicht. Denken Sie eigentlich auch an die Inklusion von Analphabeten, wenn Sie ein Website-Design beurteilen oder eine Marketing-Kampagne freigeben? In Deutschland reden wir hier immerhin über 6,2 Millionen Menschen!

Für diejenigen, die Lesen und Schreiben können, spielt dann nochmals die Typografie eine entscheidende Rolle: Die speziell für die Londoner U-Bahn entwickelte Schriftart „Johnston“ steht für Lesbarkeit und Klarheit. Diese konsistente und verständliche Typografie ermöglicht es Reisenden, Informationen auf einen Blick zu erfassen – dies wurde erreicht, indem man sich bei der Buchstabenform, beim Kerning (Laufweite) und bei der gesamten Proportion der Schriftart an Studienergebnisse hielt, die die schnelle Erfassbarkeit und Lesbarkeit bewertet haben.

Schließlich zeugen auch die Standards an den Bahnhöfen von absoluter Konsistenz. Mit einem einheitlichen Format für Wegweiser, Informationstafeln und Service-Updates wird eine Umgebung geschaffen, die die Benutzerfreundlichkeit und effiziente Navigation in den Vordergrund stellt. Diese durchdachte Gestaltung der Bahnhöfe trägt erheblich zu einer verbesserten Reiseerfahrung bei.

All diese Elemente des Leitsystems der Londoner U-Bahn sind ein Triumph der Wahrnehmungspsychologie im Design. Die Nutzung grundlegender menschlicher Fähigkeiten wie Farb- und Mustererkennung sorgt für eine effektive Kommunikation und erleichtert die Navigation. Durch die Reduzierung der kognitiven Belastung wird eine intuitive und stressfreie Nutzung ermöglicht. Das System ist ein brillantes Beispiel dafür, wie durchdachtes Design unser Verhalten und unsere Erlebnisse tiefgreifend beeinflussen kann. Es ist ein klares Zeugnis dafür, dass gutes Design nicht nur den Alltag erleichtern, sondern diesen auch bereichern und begeistern kann.

Was Sie davon haben

Okay, Knoedgen hat mal wieder Bücher zitiert und herumphilosophiert und das mögen ja alles interessante Einsichten sein. Aber was haben Sie nun davon? Ich zeige es Ihnen anhand konkreter Regeln, die Sie für sich und ihre Arbeit ableiten können – sei es, wenn Sie ein Designkonzept freigeben müssen oder auch, falls Sie eine Marketing-Kampagne zu beurteilen haben:

  1. Nutzen Sie bewährte Designkonventionen: Vertraute Elemente wie eindeutige Warenkorb-Icons oder klar definierte Navigationsbuttons helfen den Nutzern, sich intuitiv auf Ihrer Webseite oder in Ihrer App zurechtzufinden. Bewährte Designstandards sind wie eine gemeinsame Sprache zwischen Ihnen und Ihren Nutzern. Es gibt keinen Grund, anstelle „gelernter“ Elemente die Welt neu zu erfinden.
  2. Balancieren Sie Vertrautes mit Einzigartigem: Während Sie sich an etablierte Konventionen halten, sollten Sie auch nach Möglichkeiten suchen, Ihr Design unverwechselbar zu machen. Dies kann durch innovative visuelle Akzente, kreative Layouts oder interaktive Elemente geschehen, die Ihr Branding unterstreichen. Damit wird die Nutzerbindung gestärkt aber es ist eine Gratwanderung, wenn Sie dabei zu viele etablierte Konventionen verletzen.
  3. Verstehen Sie die unbewussten Erwartungen Ihrer Nutzer: Gutes Design spricht die unbewussten Bedürfnisse und Erwartungen der Nutzer an. Versetzen Sie sich in Ihre Nutzer, um zu verstehen, wie sie Ihre Webseite oder Ihr Produkt intuitiv nutzen möchten. Eine nahtlose Nutzererfahrung schafft Zufriedenheit und fördert die Loyalität. Es ist eigentlich immer das Gleiche: wenn Sie ihre Zielgruppe nicht auf einer Bedürfnisebene verstehen, können Sie ihr auch nicht geben, was sie braucht.
  4. Sorgen Sie für intuitive Navigation und Zugänglichkeit: Ihre Website oder App sollte so gestaltet sein, dass Nutzer mühelos finden, was sie suchen. Klare Menüs, gut sichtbare Suchfunktionen und eine logische Strukturierung der Inhalte sind unerlässlich für eine effiziente und benutzerfreundliche Umgebung. Schauen Sie sich Heatmaps an, verstehen Sie die vielzitierten „Customer Journeys“ durch Ihre Medien und digitalen Oberflächen, die Sie zu gestalten haben. Optimieren Sie danach iterativ und in kleinen Schritten.
  5. Setzen Sie auf klare und konsistente Kommunikation: Sowohl in Ihrer visuellen Sprache als auch in Ihren Texten sollte Klarheit und Konsistenz herrschen. Vermeiden Sie verwirrende Botschaften und sorgen Sie dafür, dass Ihr Design und Ihre Inhalte Hand in Hand gehen, um Ihre Markenbotschaft effektiv zu vermitteln. Besetzen Sie jeden Begriff genau ein einziges Mal mit einer Bedeutung, nur dann ist es widerspruchsfrei. Und vergessen Sie nicht, das gleiche auch bei visuellen Elementen zu tun: ein Icon darf ebenfalls nur eine Sache bedeuten.

Diese fünf goldenen Regeln können Ihnen dabei helfen, Designentscheidungen zu treffen, die nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch funktional und benutzerzentriert sind. Indem Sie diese Prinzipien anwenden, können Sie ein Erlebnis schaffen, das Ihre Nutzer schätzen und ohne nachzudenken verstehen werden.

Keine Taschenspielertricks, sondern unsichtbare Gesetze

Die wahre Kraft von Gestaltung liegt in ihrer Fähigkeit, unsichtbar zu sein. Gutes Design ist wie die Luft, die wir atmen – lebensnotwendig, aber oft nicht im Bewußtsein. Es ist das feine Zusammenspiel von Ästhetik und Funktionalität, das uns umgibt, beeinflusst und leitet, ohne dass wir darüber nachdenken.

Ich finde, was wir aus den oben besprochenen Erkenntnissen herausziehen können, ist, dass Design weit mehr ist als nur Oberfläche. Es geht um das Verstehen und das Nutzen der menschlichen Wahrnehmung, um Produkte und Erfahrungen zu schaffen, die intuitiv, zugänglich und letztendlich selbstverständlich sind.

Als Gestalter, Marketer oder Unternehmer sollten wir uns daher stets fragen: Wie können wir die Prinzipien der Wahrnehmungspsychologie nutzen, um nicht nur ästhetisch ansprechende, sondern auch tiefgreifend funktionale und intuitive Produkte zu kreieren? Wie können wir sicherstellen, dass unser Design nicht nur die Augen, sondern auch das Herz der Nutzer erreicht?

Letztendlich sollte es das Ziel einer jeden Gestaltung sein, nahtlos in das Leben der Menschen einzugehen und dort einen positiven, aber gerne auch unauffälligen Platz einzunehmen. Es geht darum, Erlebnisse zu schaffen, die so mühelos und natürlich sind, dass sie zu einem integralen Bestandteil des täglichen Lebens werden – ohne Aufdringlichkeit, ohne Verwirrung. In diesem Sinne ist das unsichtbare Design das mächtigste von allen. Es ist die Kunst, die nicht gesehen wird, aber dennoch eine tiefe Wirkung entfaltet.

In unserer hektischen, überladenen Welt ist es diese Art von Design, die den größten Unterschied macht – ein stilles, aber wirkungsvolles Zeugnis für die Schönheit der Einfachheit und die Eleganz des Selbstverständlichen.

In diesem Sinne: Elegante Grüße!

Ihr Michael Knoedgen

Hat Ihnen dieser Artikel weitergeholfen? Dann verpassen Sie keine weiteren und abonnieren Sie meinen Newsletter auf LinkedIn. Ihr Feedback ist mir wichtig: Zögern Sie nicht, mir Ihre Gedanken per Nachricht zukommen zu lassen. Für Kooperationsvorschläge bin ich stets offen. Sie brauchen einen Profi für digitale Marketing- und Designfragen? Nutzen Sie meine kostenfreie Erstberatung und lassen Sie uns über Ihr Thema sprechen.